Der diesjährige „Festredner“ auf dem „Burschentag“ der „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft“ (ADB) vom 31. Oktober bis zum 2. November 2025 im nordrhein-westfälischen Eitorf ist Marcus Pretzell. Bis 2017 war Pretzell AfD-Funktionär, genau wie seine Ehefrau Frauke Petry. Pretzell als Redner auf dem „Burschentag“ ist deshalb bemerkenswert, weil er bis vor einigen Jahren noch selbst korporiert war. Allerdings war er kein „Burschenschafter“ und uns ist auch nicht bekannt, dass die ADB ihre „übelsten Verfehlungen der NS-Zeit“ debattieren würde.
Am 22. Februar 2021 schrieb Pretzell einen vergifteten Abschiedsbrief an seine „lieben Corpsbrüder“ vom „Corps Saxo-Borussia Heidelberg“ im „Kösener Senioren-Convents-Verband“ (KSCV). Zwar hat Pretzell den Brief damals auf Facebook veröffentlicht, damit er auf Wikipedia verlinkt werden kann, um seinen Austritt zu belegen, was jedoch nie geschehen ist. Denn das wollte das Corps aus nachvollziehbaren Gründen nun wirklich nicht:
„Liebe Corpsbrüder,
die Anrede verwende ich nun letztmalig, und einige von euch wird das mit Glück erfüllen; mich auch.
Dieser Brief richtet sich an Euch alle, darin geäußerte Kritik richtet sich aber an das Corps als Institution oder an Einzelne, wo dies kenntlich gemacht ist. Keinesfalls möchte ich damit pauschal alle von Euch über einen Kamm scheren. Auch im Corps gibt es solche und solche. Ich will mich aber auf die Gründe meines heutigen Corpsaustritts weitgehend beschränken, sodass der kritische Teil dieses Briefes wohl überwiegen wird.
Anlass ist die Chuzpe des Altherrenvereins, von mir allen Ernstes Mitgliedsbeiträge einzufordern, nach allem, was in den letzten Jahren geschehen ist. Ich verspreche, ich verzichte vorerst auf Schmerzensgeld. Mehr kann ich finanziell nicht für Euch tun.
Im Jahr 1994 trat ich als junger Mann in das Corps Saxo-Borussia ein. Zum einen weil mich die Herausforderung reizte und zum anderen weil ich die Vorstellung einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig aus freien Stücken verpflichtet ist, mit einem hohem Anspruch an sich selbst und dem Selbstverständnis eine geistige und charakterliche Elite zu bilden, reizvoll fand. Menschen glauben an komische Dinge, wenn sie jung sind. Dass es für manchen weniger um Ideale, als schlicht um Vernetzung, Wichtigtuerei und das grobe Gefühl des Standesdünkel ging, konnte ich recht schnell herausfinden. Dies störte mich zunächst nicht übermäßig, weil doch immerhin recht viele anständige Geister in den Reihen des Corps weilten und es außerdem recht lustig zuging. Nachdem also meine ersten naiven Vorstellungen davon, dass eine Gemeinschaft, sei sie noch so klein, in relevanter Weise „besser“ sein könnte als der Durchschnitt einer Gesellschaft, verflogen war, arrangierte ich mich recht gut mit dem, was es war. Es war eine alles in allem aufregende Zeit mit unvergesslichen Erlebnissen, gleich, ob zu zweit mit manchem unter Euch oder auch in großer Runde in der biergeschwängerten Kneipe. Einigen von Euch, das will ich nicht verhehlen, bin ich bis heute dankbar für diese Zeit und manche Gespräche oder Erlebnisse. Mal waren wir trunken, mal waren wir nüchtern, meistens erlebte ich die Stunden heiter, wenn man von einem verkorksten Fuchsensemester absieht. Zahlreiche Erlebnisse verbinde ich mit dem Fechten, sodass zumindest die Vorstellung von der Herausforderung nach drei Partien und fast 100 Sekundagen als erfüllt betrachtet werden darf. Natürlich habe ich auch weniger schöne Erlebnisse hinter mich gebracht. Ein Corpsbruder zum Beispiel, der meine Wohnung in der Heidelberger Innenstadt in bester Lage gern „geerbt“ hätte, als ich auszog. Als das mit der Wohnung nicht klappte (aus eigener Dusseligkeit noch dazu), wurde der junge Herr niederträchtig, ließ seine Wut an meinem jüngeren Bruder aus. Er ist der einzige unter Euch, dem ich seine Charakterlosigkeit ganz offen ins Gesicht gesagt habe und erklärt habe, dass ich mein Lebtag mit ihm nichts mehr zu tun haben möchte. Mir ist auch in acht Jahren politischer Tätigkeit nur ganz ausnahmsweise ein schlechterer Charakter untergekommen. Aber Schwamm drüber, ein Depp macht noch keinen Sauhaufen.
Insgesamt war meine Aktivenzeit keine schlechte, die Zeit als Inaktiver habe ich sogar sehr genossen, aber weder wollte ich zeitlebens auf dem Riesenstein aus siffigen Pötten Ötti trinken, während ich Geschichten aus Zeiten austausche, die keiner der Erlebenden nüchtern beobachtet hat, noch hielt ich das Corpsstudententum für ein Lebenskonzept. Insofern habe ich mich eher seltener blicken lassen, nachdem ich mein Studium beendet hatte, was nicht heißt, dass ich das Corps als Ort des Austausches und für die Erlebniswelt eines jungen Studenten nicht für sinnvoll erachtet hätte. Es gab einfach Wichtigeres, Familie und Beruf gingen vor.
So plätscherte meine Corpsmitgliedschaft so vor sich hin, wie es wohl vielen in ihren Dreißigern ergeht. Ich hatte mich in der Zeit über einige Jahre in der FDP engagiert, aber dann trat ich mit deren Gründung in die AfD ein. Das wäre wohl noch verkraftbar gewesen, wenn ich nicht irgendwann 2014 zur öffentlich politisch rezipierten Person geworden wäre. Ab da wurde es ungemütlich. Natürlich sprach mich niemand von Euch an, außer denen, die mir unter der Hand und ganz vertraulich versicherten, dass sie mich a) gewählt hätten und b) im Übrigen von meinem Engagement ganz angetan seien. Öffentlich sollte solcherlei Zustimmung natürlich nicht werden. Was aber sonst an meine Ohren drang, waren Äußerungen, die mir durch Dritte zugetragen wurden. Der oder jener habe in einer Rundmail an einige Corpsbrüder jenes oder solches über mich geäußert, oder beim letzten Stiftungsfest habe der Soundso sich in trauter Runde folgendermaßen geäußert. Es begann das, was auch gesamtgesellschaftlich en vogue war. Man distanzierte sich öffentlich, gab Journalisten Zitate, eigentlich ein No-Go erster Güte in einem Corps, welches auf dem Lebensbundprinzip basiert. Intern wurden Überlegungen zu meinem Corpsausschluss diskutiert, nur mit mir redete über Jahre niemand, und ich hielt es weder für nötig noch für hilfreich, solcherlei Heckenschützen von mir aus die Meinung zu geigen. Ich hatte auch, um ehrlich zu sein, Besseres zu tun. Das hielt die Geiferer aber von nichts ab. Als es schließlich zu einem einzigen Treffen mit einigen Abgesandten des Corps kam, boten die Protagonisten das ganze Jammerbild eines Corps dar, das zwar in der sicheren Überzeugung lebt, dass man zur besseren Gesellschaft in Deutschland gehöre, aber leider auch völlig orientierungslos in Bezug auf die selbstgesetzten hohen moralischen Standards blickt. Meine Frage nach problematischen Positionen blieb gänzlich unbeantwortet. Einen Tweet zu „Merkels Toten“ griff man weniger inhaltlich als immerhin stilistisch an. Aber ansonsten?
Nun, das Problem, dass ich schuf, war von gänzlich anderer Natur, als etwa politischer. Die AfD war ein gesellschaftlicher Paria und ich ihr Repräsentant. Man könne bei Wikipedia lesen, dass ich sein Corpsbruder sei, jammerte einer gegenüber meinem Bruder. Ich möge den Eintrag doch bitte löschen. Kein inhaltlicher Dissens wurde da formuliert, keine verfassungswidrigen Umtriebe bemängelt. Nein, man fühlte sich in der eigenen Großartigeit durch Kontaktschuld dritten Grades etwas herabgesetzt. Das wog schwerer als jeder echte politische Vorwurf. Beim Johanniterorden die bösen Blicke ernten, von der Ehefrau Vorwürfe dazu bekommen, dass sie in der Bridge-Runde auf den Corpsbruder ihres Mannes angesprochen worden sei. Es waren solcherlei Befindlichkeitsbeeinträchtigungen, die eine gar nicht so kleine Zahl von Euch umtrieb.
Ich könnte nun ganz nonchalant dazu übergehen, mir selbst zu sagen, dass eine noch so kleine Gruppe mit noch so hohen Ansprüchen eben kaum je besser sein wird, als die Gesamtgesellschaft, aus der sie sich rekrutiert. Ich tue das aus zweierlei Gründen in diesem Fall nicht.
Zum ersten legt das Corps nicht wenig Wert darauf, dass politische Streitigkeiten und Positionen im Rahmen des Corps keinen Raum haben, oder allenfalls im eng gesteckten Rahmen einzelner politischer Vortragsabende. Schon deshalb hielt ich mein politisches Engagement für eine Frage, die das Corps nur dann zu interessieren habe, wenn ich die Grenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verletze. Davon war ich zu jeder Zeit weit entfernt. Das ist mir auch von keinem Corpsbruder je vorgeworfen worden.
Zweitens bildet sich das Corps nicht wenig darauf ein, geradezu Hort des nationalsozialistischen Widerstandes gewesen zu sein, also Menschen, die gegen den Strom schwimmen, einen Raum zu geben. Um das völlig klar zu machen: Ich vergleiche mein Tun in einer Demokratie nicht mit dem Widerstand im 3.Reich. Die Leichterregbaren können sich wieder setzen. Ich erwähne das aus einem anderen Grund, aber dazu komme ich später. Der Stolz auf unterschiedlichste Überzeugungen von Corpsbrüdern ist jedenfalls groß. Querdenker in den eigenen Reihen wurden gern erwähnt und mit stolz geschwellter Brust als Corpsbrüder bekanntgegeben. Meist handelte es sich dabei allerdings um historische Personen. Querdenker waren sie ja nur zu ihrer Zeit, heute gehören sie eben gut zum Zeitgeist. Insofern hätte ich erahnen müssen, dass die angebliche Akzeptanz unterschiedlicher Personen, Überzeugungen und Werte nur eine Phrase ist. Mein Fehler! Ich gestehe ihn ein, ich glaubte tatsächlich lange, dass man unterschiedliche Denkweisen im Corps goutieren würde.
Mit meinem politischen Engagement begann nun also die Hetzjagd. Das meiste bekam ich ja gar nicht mit, aber manches eben doch zu Ohren. Einer schrieb mir sogar einen Brief. Er kündige mir die Freundschaft. Ich war baff, handelte es sich doch um den weiter oben erwähnten Corpsbruder, den ich für den Rest meines Lebens nicht mehr zu sprechen gedachte. Jetzt kündigte er mir seine Freundschaft. Nun denn, ein heiterer Geselle immerhin, aber der Schlauste war er nie. Dann wäre da noch einer, der es mir per Mail mitteilte, oder eigentlich zwei, aber die zweite Mail habe ich nicht mal fertig gelesen und dann gelöscht. Die andere aber war derart kunstvoll mit Schimpfwörtern angereichert, dass, veröffentlichte man sie in den sozialen Netzwerken, man wohl ganz dramatisch von Hatespeech sprechen würde. Natürlich sandte er die Mail auch an zahlreiche andere Corpsbrüder, um seine untadelige Haltung zu dokumentieren. Ich sei nun wohl auf Gedeih und Verderb an die AfD gebunden, schon aus finanziellen Gründen könne ich mir einen Austritt wohl kaum leisten, schrieb mir „Von-Beruf-Sohn“. Moralisch lag er nun ziemlich weit vorn, und jeder konnte es lesen. Ja, es waren entlarvende Momente Einzelner, aber es waren eben auch entlarvende Momente für diejenigen, die das alles geschehen ließen ohne sich darum zu scheren, denn aus dem großen Kreis der Mailempfänger widersprach niemand, jedenfalls nicht so, dass ich es hätte vernehmen können. Lachhaft ist das Ganze auch deshalb, weil jede Kneipe im Rahmen des Corps in den Augen der Öffentlichkeit wohl aufgeregter diskutiert würde, als ein AfD-Parteitag, wenn denn bekannt wäre was dort so alles abläuft. Aber solange es keiner sieht und hört, ist niemand gestört, richtig?
Liebe Leute, Euren ganzen Dünkel über eine gefühlte gesellschaftliche Elite, die in der Tradition derer steht, die schon 1944 zur moralisch besseren Seite zählten, könnt ihr Euch an den Hut stecken, wenn die einfachsten gesellschaftlichen Umgangsformen missachtet werden, sobald ein Wikipedia-Artikel zu gefühltem Ungemach führt. Wer die gemeinsame Mitgliedschaft in einem Corps mit mir für so belastend hält, dass er meinen Ausschluss fordert, der möge doch bitte nicht die heroische Haltung der Vandalen zu ihren jüdischen Corpsbrüdern im dritten Reich loben. Habt ihr eine Ahnung um welchen Faktor unangenehmer es war, den jüdischen Corpsbruder gegen die SA in Schutz zu nehmen, als den AfD-Funktionär auf derselben Wikipedia-Seite zu finden wie das eigene Corps? Ein feiner Mitläufer wäre so ein Schneeflöckchen gewesen.
Aber noch etwas sei Euch gesagt liebe Freunde. Das Corps hat immer höchsten Wert auf politische Neutralität gelegt. Politik sollte das Verhältnis der Corpsbrüder und ihren Lebensbund nicht belasten. Das Wissen um die zerstörerische Kraft des politischen Dissens war den Alten wohl bewusst. Gern ließ man so auch nach 1945 den Mantel über der politischen und manch anderer Frage. Die Widerstandskämpfer wurden geehrt, die Täter wurden verschwiegen. Oder erinnert Ihr Euch an die zahlreichen Klärungen der Fragen zum Verhältnis zu Tätern des NS-Regimes? Wo steht die Gedenktafel der Opfer derjenigen Saxo-Borussen, die im 3. Reich zu den Tätern gehörten? Die meisten von Euch kennen die Namen der Täter nicht einmal, obgleich mancher von ihnen noch Jahrzehnte nach dem Krieg weiterlebte. Bloß nicht darüber reden, dann fällt es nicht auf, und der Frieden im Corps ist nicht in Gefahr. Zu groß wäre die Angst, dass Söhne, Neffen, Enkel von beiden Seiten des damaligen Schützengrabens sonst aufeinander losgehen.
Nun, wenn Ihr nicht beim AfD-Funktionär 2013-17 halt machen wollt, möchte ich Euch dennoch hier eine echte Liste von Personen geben, von denen Ihr Euch wahlweise distanzieren oder trennen solltet. Sie alle sind bei Wikipedia zu finden und dort als eure Corpsbrüder geführt.
Jürgen von dem Knesebeck, 1930-32 Mitglied des Reichstags für die NSDAP
Udo von Alvensleben, NSDAP und SA-Führer
Erwin Selck, Vorstand der IG Farben, NSDAP-Mitglied und SS-Mitglied
Herbert von Dirksen, musste daran gehindert werden, als Botschafter in Japan die Besetzung Mandschukos vorschnell anzuerkennen, so richtig wollte er es für den Führer machen. NSDAP-Mitglied, wurde noch 1955 zum Ehrenmitglied erhoben.
Wedego von Wedel, von ihm sind die bewegenden Worte zur Begründung seines NSDAP-Parteieintritts überliefert, als er glaubte, „in der nationalsozialistischen Bewegung das Mittel für die Wiedergenesung des Vaterlandes gefunden zu haben.“
Kurt von Kamphoevener, Diplomat in unappetitlichsten Missionen und Mitglied der NSDAP
Hans-Adolf von Moltke, als Diplomat erläuterte er 1939 die polnische Kriegsschuld
Edmund von Thermann, Diplomat, NSDAP-Mitglied und SS-Brigadeführer, Antisemit
Alexander von Dörnberg, SS-Führer, Leiter der Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes 1938-45
Man kann, das sei hier nochmals betont, durchaus die Meinung vertreten, dass Politik im Corps nichts zu suchen habe, also auch übelste Verfehlungen der NS-Zeit nicht debattiert werden. Man kann aber nicht den Widerstandskampf gegen das Naziregime dann als Stellvertreterkrieg gegen einen (ehemaligen) AfD-Funktionär führen, weil der gerade medial präsenter und damit unangenehmer ist. So billig kommt man mit Eurem eigenen hohen Anspruch nicht davon, will man sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben.
Da diese einfach Wahrheit leider bis heute keinen relevanten Personenkreis bei Saxo-Borussia erreicht hat, habe ich nun nach reiflicher Überlegung entschieden, Euch der Last meines Daseins in Eurem Kreis zu entheben. Da auch die Darstellung bei Wikipedia für Euch von herausragender Bedeutung ist, wie nicht nur einer von Euch dokumentierte, habe ich mich entschieden, mein Austrittsschreiben zu veröffentlichen. So kann es bei Wikipedia eingetragen werden und viel wichtiger: Mein Austritt bleibt dann dort auch stehen und wird nicht mangels öffentlich zugänglicher Belege gelöscht. Muss man wissen, wie Wikipedia funktioniert.
Ich trete nun also aus und wünsche euch Wahrhaftigkeit oder wenigstens ein ruhigeres Leben.
Lebt wohl
Marcus Pretzell
P.S.: Meinen rückständigen Beitrag würde ich allenfalls aus einem Grund nachzahlen. Zweckgebunden zur Aufarbeitung der Geschichte der Mitglieder des Corps im 3. Reich. Höre heute morgen gerade, dass das sogar ein Vorbild im Weißen Kreis fände.“